Montag, 16. Oktober 2006
Innenleben
Alles widersprüchlich. Hier. Es gibt wenige Orte, in denen sich Widersprüche so offensichtlich manifestieren denn hier.

Das zeigt sich beispielsweise allein schon im Wahlkampf. Bürgermeister. Kein kleiner Posten in einer traditionsbewussten Denkerstadt. Und so treten sie alle an: Quer durch die Bank nahezu alle Parteien, die das Spektrum hergibt. Die SPD schickt ihre Titelverteidigerin; die Bündnisgrünen einen aufstrebenden Jungpolitiker mit großem Namen, der allerdings im Falle eines Scheiterns schon Legitimationsprobleme in Sachen weiterer Karriereplanung kriegen wird; die CDU hätte gerne einen parteilosen Kandidaten unterstützt, der jedoch nicht wollte und wieder zurückgezogen hat und nun tritt denn doch ein Parteijünger an, den man als Ortsverein dennoch nicht unterstützt; dann gibts natürlich die Linke mit einer chancenlosen Fünfprozentkandidatin und zu guter letzt dann noch den Kerl von der Pogopartei, für den der Wahlkampf ein Riesenhappening ist.


Es ist ja auch nicht leicht, die Stadt zu regieren. Natürlich will jeder was. Und die allermeisten wollen Geld. Schon sind wir beim größten Problem. Es gibt kein Geld.
Das sieht der Durchschnittsbesucher gottseidank nicht sofort. So man die Stadt betritt, sieht es zuerst mal so aus, als sei es besonders hervorragend gelungen, eine pittoreske Altstadt über das Zweitweltkriegsbombardement hinwegzuretten. Das ist ja in der Tat auch der Fall. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich Touristen und Liebhaber einer mittelalterlichen Fachwerkarchitektur hier verlieren können. Wandeln auf den Pfaden von Hölderlin oder Mörike. Und natürlich gibt es diese Plätze, die Hölderlin und Mörike bereits exakt gleich gesehen haben. Hier durfte sich kein Le Corbusier austoben, kein Richard Meyer seine Paläste aus weißem Marmor errichten, Frank Gehry würde wohl mehrere Bürgerbewegungen provozieren.
Man badet in der Vergangenheit. Wohl weniger, weil man nicht auch Moderne wollte. Viel mehr, weil man die sich nicht leisten kann.
Aber darin liegt nun auch die Crux. Die Armut. Kein Geld. Keine Investitionen. Das aber wiederum hat Tradition. Schon Mitte des vorletzten Jahrhunderts wusste die hiesige Intelligenzija jeglichen Fortschritt zu stoppen und den status quo zu konservieren. Man verhinderte schlicht den Bau der Eisenbahnlinie. Die wissenschaftlich fundierte Gleichung hinter dieser Negation war dazumal einfach: Eisenbahn = Industrie = Arbeiter = Probleme.
Dieses historische Erbe prägt bis heute. Noch immer schaut man neidisch auf die industrielle Schwester im Osten, während man noch immer in nicht minder ausgeprägtem Hochmut die eigenen Dichter und Denker emporhält. So ist das eben in dieser historikbewussten Miniatur der bundesrepublikanischen Verhältnisse.
Deshalb bewahrt man die Tradition. Weil man immer noch keinerlei Industrie und damit auch keinerlei Gewerbesteuereinnahmen hat, ist man froh, wenn das Land das für einen übernimmt. Deshalb sieht auch ein Großteil dessen, was für den Allgemeintouristen und Fachwerkambienteliebhaber sichtbar ist, prächtig restauriert aus. Ganz einfach deshalb, weil ein Großteil der Gebäude in "neuralgischer Nähe" in Eigentum des Landes ist.

Die Stadt ist ein Dauerkompromiss. Ein Kompromiss zwischen Links und ganz Links. Ein Kompromiss zwischen altem Denken in Fachwerk und modernen Wissenschaften in Drittreichbauten. Ein Kompromiss zwischen Burschenschaften und der Linken. Ein Kompromiss zwischen Geld und dem Ruin.

Selbst bei der Restaurierung einer der Herzeigeimmobilien musste man einen Kompromiss schließen. Nirgends wurde dies deutlicher als hier: Eine jahrhundertealte Festung wurde wieder hergestellt. Im Namen und bezahlt natürlich vom Land. Hier gab es denn den alten Historikerstreit, was denn nun legitim sei. Die eine Fraktion meinte, dass man das Teil so herstellen müsse, dass es prächtig erscheine, während die andere Fraktion der Meinung war, historisch sei nur, was auch authentisch sei. Der Kompromiss war der, dass jede Partei einen Teil erhielt. Die einen erhielten den linken Teil, der nun aussieht, wie es mal hätte aussehen können, die andere Partei dürfte das so restaurieren, wie es tatsächlich einmal war.


Nur zu gern fällt man der Versuchung anheim, einem potentiellen Geldgeber sämtliche Optionen offenzuhalten. Weshalb man nun für die nächsten Jahrzehnte auch eine Bauruine direkt an der Einfahrt zur authentischen Altstadt sitzen hat.
Der manische Drang Größe zu zeigen scheint chronisch zu sein. Anders lassen sich Großhallenbauwerke kaum erklären, während gleichzeitig das soziale wie das gesellschaftliche Leben momentan einen Tiefgang sondergleichen erleideen.
Nirgends sonst leistet man sich den "Wissenschaftlerkrieg" innerhalb einer Fakultät, der letzten Endes erst dadurch entschieden wurde, indem einer der Kontrahenten das Zeitliche gesegnet hat. Politisch wird das alles allzumal...

In Sachen Wahlkampf tobt mittlerweile die Schlacht um die Größe der Plakatwände und um die Persönlichkeit der Kandidaten. Das Rennen wird wohl (mitte-)links entschieden in einer Stadt, die zwar zutiefst pietistisch ist und durchaus burschschaftliche Traditionen hochhält, in der sich aber selbst die Grünen diesen miefigen Pietismus übergezogen haben.
Das aber wird den rotgesichtigen Wählern -sei es durch jahrhundertelange Inzucht oder übermäßigen Mostkonsum bedingt- herzlich egal sein. Hier war schon immer alles etwas ambivalenter als anderswo. Und so wählt man hier auch. Ändern wird sich nichts.

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Morning Mood
Ich mag die Farben dieser Jahreszeit. Den morgendlichen Nebel, der dann langsam von der Sonne verdrängt wird. Farben, die sich von keiner Kamera der Welt festhalten lassen.
Dafür passt aber Musik ganz gut.

Edvard Grieg: "Morning Mood" aus Peer Gynt...


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