Sonntag, 19. Februar 2006
Bucks
Ein Gastbeitrag von Herrn Ning deBoerd. Herzlichen Dank und viele Grüße gen Wien (wo Kaffee noch zelebriert wird!)

Eine wunderschöne Verteidigungsrede für die Wiener Kaffeehauskultur:



Liebe deutsche Freunde, lasst euch nicht verwirren: Ein großer Brauner kostet hier zw. 3,10 und 3,50 Euro = ist ein großes Häferl (Tasse) mit starkem Kaffee und -dank Starbucks- wird der Kaffee selbst auch immer besser in den Traditionshäusern (Kaffeehaus hieß früher zugleich: schlechter Kaffee).
Was man vollmundig Latte (+macchiatto) nennt, kann man auch als "Häferl- oder Milchkaffe (mit geschäumter Milch)" bestellen. Kostet genauso viel in den Cafés, eher weniger als bei S-Bucks.
Es kommt natürlich auf die Lage des Kaffeehauses an. Im Cafe Central (Innenstadt), wo der Schnösel verkehrt (und auch der echte Wiener Adel) und der mediokre Beamtentourismus sich seiner unangemessenen Kleidung peinlich bewusst wird , genießt man byzantinisierenden Historismus und formidabel gediegene Bedienung mit geschmalzenen Preisen (und zu Recht)! Das Café Westend am Westbahnhof (6. Bezirk) hingegen wirkt unverschämt teuer, weil hier alles so ist, wie eben ein Wiener Kaffehaus zu sein hat: grantelnde bis freche Kellner, internationale Zeitungen nur in Yellow-press-Form, zerschlissene Bespannung, Sprungfedern kaputt... aber dieses hellmoosige mintgrün...

Das macht es eben aus: diese Kaffehäuser sind ein einziges Sofa, man isst nirgendwo so gute Würstchen und Herrengulasch (auch das Frühstücksei passt auf die Sekunde, die Semmel, wenn nicht frisch, darf zurückgewiesen werden, alles eine Sache des Selbstbewusstseins, für beide Seiten). Ist man gescheit, wird der Kellner zum liebenswerten Aufbauprogramm eines beschissenen Tages. Sie -die Kellner als lebendes Inventar und diese großen Ecklokalitäten- atmen das Jahrhunderwende-Wien, oder die 20er-jahre, John Irvings frühe 60er-Jahre oder dieselben ein Jahrhundert früher (Biedermeier im Cafe Sperl), Thomas Bernhards 70er (Bräunerhof), Stilchaos alla Hawelka (für alle phantastischen Realisten und Georg Danzer..) oder eben alle Zeit künstlerischer Suche (Prückel, Uni f. Angewandte Kunst)... mit 6 Metern Raumhöhe, Stuckdecken, reisigen Spiegelflächen, alles nikotin-patiniert.
Und wenn schon in schlechterer Luft (draußen vor der Tür ist sie schlechter, mein Lieber): alles atmet Geschichten, der Hut- und Garderobenständer, der Zeitungstisch, die guten und schlechten Drucke an der Wand, das Stimmengewirr, das perfekt nach dem einschläfernden Rhythmus eines Zuges passt und regennasse Philantropen, die mitten drin an ihrem ewigen ersten Roman arbeiten, selbst zu faszinierenden Romangestalten macht..
Und dazu: ein Klavierspieler, im Café Ritter Frautag (hoppla, verschrieben) abends oder Sonntags schon am vormittag im Sperl und -die empfehlenswerteste Pianistin: jeden Abend im Cafe Schwarzenberg. Zuvor sollte man aber nicht Schuberts Quartette im Konzerthaus genossen haben, die feine Pianistin hat auch eine Stehgeiger dabei, ein Zigeuner, das merkt man an seiner singenden Geige.

Wer braucht ein bewusst ungeniales Einrichtungs-Austauschprogramm wie Starbucks? Und "billiger" ist vielleicht Bratislava. Und Nichtraucher tun mir schon deshalb leid, weil sie sich mit einem "Nicht-" vor einem Wort bezeichnen müssen

... comment