Samstag, 11. September 2010
Stuttgart und das Lügenpack
Im Grunde bin ich ein einigermaßen ruhiger Bürger. Ich zünde keine Autos an und verprügele auch keine Polizisten. Eigentlich gehe ich auch höchst selten auf Demonstrationen. Mal gegen ein Schulungszentrum der NPD, dann mal als Fischer hier war ("Mörder, Mörder"), Scharping war mal dran ("Rotkohl, Rotkohl") und dann Kohl selbst, der angesichts einer trillernden Meute völlig entgeistert rief, was wir denn nur für Eltern hätten, woraufhin ihm ein Megaphon -ihn duzend- entgegenbrüllte, dass die ihn doch wählten und noch hinzufügte, dass er ein rektales Ausscheidungsorgan sei und mein Nebenmann von einem abgewrackten BDM-Mädel einer alten Dame unter den Worten "dich hätte man ins KZ gebracht" tätlich angegangen wurde.
Hin und wieder kriegen Volksvertreter Post von mir (bestimmt, aber höflich), aber ich wäre weit entfernt davon, als Dauerdemonstrationsreisender durchzugehen. Vermutlich würden viele von mir sagen, dass ich interessiert aber genauso desillusioniert bin. Ich verfolge das Ganze einigermaßen interessiert, aber ich bin nicht wirklich aktiv und strebe auch nicht nach einer aktiveren Rolle.

Ich bin damit wahrscheinlich sowas wie der Prototyp eines Großteils des Völkchens hier. Den meisten gehts einigermaßen gut und deshalb ist die Bereitschaft transparentepräsentierend durch Straßen zu ziehen eher nicht ganz so hoch. Hinzu kommt, dass es häufig zu einem Allparteienkonsens kommt, zumindest in den wichtigeren Fragen. Oder anders gesagt: Häufig war es so, dass die Interessen vieler berücksichtigt wurden, der allgemeine Lebensstandard passabel hoch, das Völkchen deshalb mehr oder minder zufrieden und damit gab es wenig Grund, Steine durch die Gegend zu schmeißen oder den Regierungssitz zu belagern.



In letzter Zeit haben wohl einige diese -nie abgesprochene- Stillhalterei dahingehend interpretiert, dass der Durchschnittsbürger hier sich vermeintlich nicht so wirklich dafür interessiert, was die Großkopferten machen, nachdem sie nun seit fast 60 Jahren ununterbrochen das Land regieren dürfen. Mal taten sie es alleine, mal gemeinsam mit dem Juniorpartner, der dieses Bundesland als sein angestammtes Urland betrachtet.

Sie irrten.

Sie haben nicht damit gerechnet, dass es hier noch Sturköpfe gibt. Ein paar. Ein paar, die nicht über sich hinweg regieren lassen möchten. Einige, die sich nicht sofort instrumentalisieren lassen, aber denen es doch irgendwann mal zuviel ist. Sturköpfe halt. Dafür dann aber richtige Sturköpfe. Es gibt Menschen, die halten auch mich für einen dieser Sturköpfe. Im Prinzip sind es geduldige Sturköpfe. Es braucht einiges bis sich diese Sturköpfe aufregen, aber wenn sie sich aufregen, dann regen sie sich auf und zwar richtig und dann legt man sich auch besser nicht mit ihnen an. Stur allein wäre noch nicht weiter dramatisch, wenn es nicht einher ginge mit zwei Dingen:

a) Einer mindestens marginal ausgeprägten Fähigkeit mathematische Aufgabenstellungen einigermaßen zu erkennen, vor allem dann, wenn es um Geld geht, hierbei vornehmlich um das eigene, und

b) dem dringenden Wunsch ernstgenommen zu werden, nachdem hierzulande über Jahrhunderte über Untertanen hinwegbestimmt wurde und diese Tradition irgendwann mal ein Ende haben muss.

Beides ist grade nicht der Fall...

Deshalb dreht der Wind hier momentan sehr dramatisch. Weil irgendwann mal zuviel ist, was zuviel ist. Erst weigerten sie sich, Steuerhinterzieher-CDs zu kaufen, womit die schwarz-gelbe Landesregierung selbst unter ihresgleichen völlig singulär stand, dann hat der Atom-Mappus in eben der Atom-Frage eine Position bezogen bei der man sich fragt, ob er schon einen Aufsichtsratsposten bei einem Energieversorger innehat oder diesen erst noch anstrebt und jetzt kam noch Stuttgart21 mitsamt explodierten Kosten, unterschlagenen Expertisen, Pöstlesgeschacher, Kommunikationsdebakel, abgelehntem Bürgerbegehren und dem Gebaren eines nichtganzlegalen italienischen Gangstervereins seitens der Betreiber des Projekts obendrauf.



Zuviel. Zuviel auf einmal. Vor sieben Monaten noch hatte Schwarz-Gelb eine recht satte Mehrheit. Mittlerweile stehen die Zeichen nicht nur auf Sturm sondern auf Orkan Wexxel. Würde diesen Sonntag gewählt, Baden-Württemberg hätte mit ziemlicher Sicherheit den allerersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands.

Spätestens jetzt sollte wohl auch dem blindesten Repräsentanten aufgegangen sein, was für eine Stimmung hier grade herrscht. Das aber kam bisher wohl eher nicht so richtig an, weshalb man nun diesen Blinden dadurch näher kommt, indem man darauf hofft, dass das Hörorgan etwas besser trainiert ist und es somit etwas lauter wird und das schon lange nicht mehr nur in Stuttgart selbst. Aber bisher mindestens sind die Blinden auch noch taub. Sonst käme eine amtierende Verkehrsministerin wohl kaum dazu, die Grünen vor laufenden Kameras aufzufordern, endlich den Rechtsstaat anzuerkennen (und sie meinte nicht "rechtsstaatliche Beschlüsse" oder ähnliches, sie meinte wirklich den Rechtsstaat als solchen). Sonst kämen sie nicht mit dem Hinweis, dass 1,3 Millionen Unterschriften für einen Volksentscheid reichten (Zeit hierzu: 2 Wochen, faktisch also: nicht umsetzbar). Sonst schlössen sich die Verantwortlichen nicht ein und kommunizierten nur noch via Pressemitteilung oder machten sich gleich ganz aus dem Staub.



Im Prinzip geht es schon lange nicht mehr nur um einen Bahnhof. Der ist vielleicht noch Symbol. Mehr geht es um die Mentalität derer, die da hocken und die noch immer so tun, als hätten sie es mit Untertanen zu tun und die Regierungsgewalt für dauerhaft gottgegeben halten.

Dabei sind dieses Mal nicht die üblichen Verdächtigen unterwegs. Es sind nicht die Jesuslatschen und es ist auch nicht der schwarze Block, die da marschieren. Es ist der demographische Querschnitt. Und es sind Mittsiebziger, mithin CDU-Klientel, die am lautesten "Lügenpack" schreien.

Es heißt, alle Staatsgewalt ginge vom Volke aus. In diesem Fall möchte man als Ergänzung anfügen: ...und sie kehrte nie zurück...

Sie sollten sich fragen, was in diesem Land falsch läuft, wenn (lt. Polizei) jeder Zwanzigste in der Stadt auf die Straße geht (jeder Zehnte lt. Veranstalter). Und das nun schon seit Wochen und zweimalig die Woche. Ende nicht absehbar. Es wird weitergehen.

Im Oktober wollen sie Bäume fällen. Es wird eskalieren.



Kurz: Es ist Aufruhr hier und sie haben es noch immer nicht verstanden. Nicht verstanden, dass es einigen vielen wirklich ernst ist. Vielleicht kapieren sie es in einem halben Jahr. Am 27. März 2011 sind Landtagswahlen. Noch sagen sie, dass es dann nicht mehr um Stuttgart21 ginge sondern um Bildungspolitik. Sie haben -wie gesagt- nichts verstanden. Überhaupt nichts. Wenn bis dahin nichts entgegenkommendes passiert ist....ich würde sagen, dass dann die Rechnung kommt. Sie wird ihnen überhaupt nicht passen. Einer muss dann gehen -die oder ich- und ich bleib hier. Ich bin stur.

   ... Stuttgart 21
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