Freitag, 5. Oktober 2012
Stuttgart wählt, oder: Wie Rezzo Schlauch beinahe mal OB geworden wäre
Am Sonntag mal wieder. Das ist weniger wegen der S21-Geschichte interessant, sondern wegen einer alten Geschichte die keiner vergessen hat. Weder die damals Beteiligten noch die Stuttgarter selbst.

Wie 1996 nämlich Schuster zum OB gemacht wurde. Der übrigens tritt nicht mehr an. Aus Altersgründen sagt er. Weil ihn keine Sau mehr wählen würde, sagt der Rest.

Aber zurück ins Jahr 1996. Damals ist etwas passiert, das das im übrigen Deutschland sonst nicht ganz schlechte Verhältnis zwischen SPD und Grünen für Baden-Württemberg wirklich nachhaltig und bis heute andauernd beschädigt hat. Das hat mitunter zu merkwürdigen und heute kaum mehr denkbaren Verwicklungen geführt: Zeitweise wäre Oettinger drauf und dran gewesen, eher mit den Grünen Koalitionsverhandlungen zu führen als mit FDP oder SPD, ehe er von Mappus ausgebremst wurde.

Was passiert war? Im Wahlkampf um den Stuttgarter OB-Posten traten zur Runde 1 an: Schuster, Rezzo Schlauch für die Grünen, ein zu der Zeit namen- und auch heute farbloser SPD-Kandidat und weitere aussichtslose Bewerber. Die erste Abstimmung endete so:

Schuster 35%, Schlauch 30%, Brechtken 22%, alle anderen waren unter ferner liefen und zogen dementsprechend zurück.

Wäre Schlauch auf Platz 3 eingelaufen, hätten wohl alle erwartet, dass er aufgrund der üblichen Vorgehensweisen zurückzieht und empfiehlt, den SPD-Kandidaten zu wählen. War aber nicht so. Stattdessen spielte sich eine Posse ab, die der SPD in Stuttgart bis heute nachhängt und die an ihr klebt wie das Mal an Kain. Die Leute hier haben ein gutes Gedächtnis in solchen Dingen.

Zu tief saß das. Nur noch die Nummer 3 und das in der Landeshauptstadt. Noch mehr: Die Kommunalwahlen des Vorjahres wurden nochmals bestätigt. Und so entschloss sich dann die SPD, Brechtken nicht zurückzuziehen, was wiederum viel internen Streit nach sich zog. Die Folge war, dass der OB einer Nachbarstadt, ebenfalls SPD, nun auch noch aufs Tableau sprang und ebenfalls zum zweiten Wahlgang antrat. Das wiederum erboste dann zig Mitglieder an der Basis und die wunderbare Kandidatenvermehrung der SPD ging weiter: Ca. 1 Dutzend Basismitglieder stellten sich gleich auch noch dem Votum, sodass vonseiten der SPD so um die 12-14 Kandidaten wählbar waren. Das ist mal eine Auswahl, finden Sie nicht auch?

Der zweite Wahlgang ging dann aus wie fast erwartet:

Schuster 43%
Schlauch 39%
Brechtken 13%
Becker 3%

Und weil die Beckerstimmen überwiegend aus dem konservativen Lager kamen und die 9% die Schlauch dazu gewann und Brechtken verlor irgendwie ziemlich gut passen, verwiesen die stinksauren Grünen vermutlich nicht zu Unrecht darauf, dass Schlauch ganz gute Gewinnchancen gehabt hätte, wenn sich die Stuttgarter SPD etwas weniger paddelig angestellt hätte.

Damit war das Klima völlig vergiftet und das über Jahre hinaus. 8 Jahre später rächten sich die Grünen, indem sie genau das machten, was die SPD davor nicht gemacht hatte: Sie zogen ihren Kandidaten (Boris Palmer) für den zweiten Wahlgang zurück.....

.....und empfahlen gleichzeitig indirekt die Wiederwahl Schusters, der dann auch prompt die SPD-Kandidatin bezwang.

Daher ist die Landeskoalition auch eher sowas wie eine Zwangsehe zweier Partner, die einander nicht so richtig mögen und wahrscheinlich ist es nur einem klugen, etwas älteren, katholischen Lehrer aus der Provinz zu verdanken, dass die überhaupt erst zustande gekommen ist und auch hält: Kretschmann gestand dem kleineren Partner einen Ministerposten mehr als seiner eigenen Partei zu.

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Danke
für die kleine Nachhilfe in neuerer Geschichte. Verliert man ja alles all zu schnell aus den Augen und war mir so bis dato gar nicht präsent.

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Sie sitzen ja auch im grünen Nirvana :-)

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Junge Leute (SPD) halt. Bin sehr gespannt, als mal 12 Jahre in Stuttgartgewohnthabender. Zuletzt hatte ich jüngst mit dem Bauwesen dort zu tun. Sehr seilschaftig und semi-...fürchterlich.

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.....wem Sagen Sie das....hier wurden Seilschaftenn quasi erfunden....

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Diese Geschichte hatte ich nicht mehr im Gedächtnis. Aber ich bin ja auch nicht aus Ba-Wü.
Aber irgendwie ist sie typisch. Und könnte überall so laufen, weil Sturheit, Eitelkeiten und Machtspielchen überall zu sehr ähnlichen Erscheinungen führen. Selbst auf der kommunalen Ebene - wo nichts zu verdienen und auch kein geschichtlicher Ruhm zu ernten ist - läuft das so.
Inzwischen bin ich da Fatalistin. Es menschelt eben.

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....und nun taucht wieder mal dieselbe Frage auf: Zieht die aussichtslose SPD-Kandidatin zurück?

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....sie hat heute Abend zurückgezogen, der andere auch. Wenn nicht alles schiefgeht, wird Fritz Kuhn neuer OB in Stuttgart. Von daher ist hier nicht nur das erste Bundesland grün regiert, sondern die erste Landeshauptstadt bald eventuell auch.

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Die kannte ich noch nicht.Bin aber auch schon lange im Exil.
Dafür erinnere ich mich noch gut an die Wochenmärkte in Tübingen mit Helmut Palmer, dem Remstalrebell. Er hatte in so vielem Recht.
Ja, auch er wollte OB werden in Stuttgart. Ich glaube, in Schwäbisch Hall hat er es fast geschafft.
Und nun ist sein Sohn OB , in dem Rathaus, vor dem er lautstark seine Äpfel verkaufte.
http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/09/am-schlips/

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Der Palmer (DER Palmer).....eine Legende. Es war Schwäbisch Hall. Da hat er damals über 40% gekriegt im 1. Wahlgang und unterlag im 2. nur deshalb, weil alle anderen den aussichtsreichsten Gegner empfahlen.

Da gibts legendäre Geschichten: Eben die Schlipsgeschichte aus Ihrem Link. Dabei soll er gerufen haben: "Jetz gohds dir an dr Kraga, Bürschle". So die damalige Aussage des Schorndorfer OB.
Oder wie er Akten vom Finanzamt entwendete und beim Pförtner wieder abgab, als der Sachbearbeiter ihn allein im Zimmer stehen ließ.
Undsoweiter....

Ich habe mich jahrelang über seine "PM" (Palmer Mitteilung) in der Zeitung amüsiert. Das war eine Mischung aus politischem Pamphlet und der Auflistung seiner Obstpreise....
....und wehe, Sie sind da mit Plastiktüte bei ihm aufgetaucht....so schnell konnte man gar nicht laufen, wie laut der schreien konnte. Ein echter Schwabe halt.

Ein aufrechter und ehrlicher Mensch. Und engagiert. Der Palmer hat mehr für die Demokratie hier getan, als alle Parteien zusammen.

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Sie sind als auch ein Palmeranhänger :-)
Gestern hatte ich ein déjà vu.
Beim örtlichen Apfelfest lag ein Buch aus: Obstbaumschnitt nach Palmer.
Habe den Umstehenden von ihm erzählt, dem schwäbischen Überzwerch.
An seine Zeitungsanzeigen erinnere ich mich auch noch gut.
Aufrecht und ehrlich, das haben Sie Recht.

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Anhänger ginge jetzt ein bißchen weit, aber die Lebensleistung finde ich schon immens. Sympathisch war er mir ohnehin. Der Mann hat nicht nur keine Rücksicht auf irgendwen und irgendwas genommen, auf sich selbst auch nicht. In Sachen Bürgerbeteiligung einer der meiner Ansicht nach erfolgreichsten überhaupt. Und das als Einzelkämpfer.
Nebenbei: Die Stuttgarter Proteste um S21 sind nicht zuletzt Produkt des Erbes von Typen wie Christian Schubart, Friedrich List, Nicodemus Frischlin oder Palmer.

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