Dienstag, 29. August 2006
Provinzkrankenhäuser
Ein x-beliebiges Krankenhaus in der deutschen Provinz. Notaufnahme, Chirurgie. Schon beim Betreten verströmt es diesen dezenten Lambarene-Charme, nur eben ohne Albert Schweitzer: Die Hütte befindet sich in Generalüberholung und so hängen Kabel von der unverkleideten Decke, liegen Planen rum und überall steht allerlei Baugerät. Bereits da finde ich das Stichwort "Gesundheitsreform" interessant und bin schon froh, nicht daselbst zu wohnen (die Überlebenschancen sind wohl miserabligst, wenns mal wirklich um Sekunden und Minuten geht).

Ich bin der erste, der ein gänzlich leeres Wartezimmer 1 betritt. Prima, denk ich noch, dann gehts ja alles schnell. Diagnose dürfte klar sein: Fraktur des linken Kleinfingers. Schnell röntgen, Verband druff und fertig. Dachte ich.
Erstmal sitz ich. Und sitz. Das Wartezimmer füllt sich langsam mit allerlei Volk. Meist Frakturen, Verstauchungen und Prellungen. Dann ists rappelvoll.
Hätte einem ja einer sagen können, dass die erst warten, bis sichs Gschäft lohnt. So sitz ich dann schon mal beinah eine Stunde.
Dann gehts los. Ich werd als erster aufgerufen. Ab ins Untersuchungszimmer. Der Doc stellt sich nicht vor, hält in der rechten Hand die ganze Zeit eine Tüte mit Erdnüssen (die er sich ganz langsam eine nach der anderen einwirft und mehr lutscht denn isst), tut hektisch (wär ich auch, wenn ich Arbeit so lang sitzen lassen würd), wirft einen schnellen Blick auf meinen Finger und meint:
"Durch. Wartezimmer 2"
Mit "durch" meinte er wohl den Finger. Aber schön. Immerhin mal ein Wartezimmer weiter vorgedrungen. Und so gehts nun allen anderen. Im Prinzip werden alle nur von Wartezimmer 1 in Wartezimmer 2 geschleust: Ein schreiende Kind mit Eltern, ein Arbeitsunfall, ein heulender Teenager mit Mama und die halbe NATO (die grade ihre Manöverkollateralschäden abliefert). Da sitzen wir nun. Eine halbe Stunde, 1 Stunde. Dann kommen alle der Reihe nach dran. Nur ich nicht. Irgendwann kommt raus, dass man mich versehentlich nach hinten sortiert hat. Schön.

Irgendwann kenn ich sämtliche (uralten) Zeitungen auswendig. Alle beide.
Und so spazier ich den Gang auf und ab, unterhalt mich mit den anderen wartenden Leidensgenossen und lern die Plakate für die gesetzliche Krankenversicherung auswendig. Nach geschlagenen 2,5 Stunden werd ich immerhin mal geröntgt. Das nächste kleine Schrittchen auf dem Weg zur Behandlung.

Dann lerne ich den Herrn Sch. kennen. Der wird als etwa 80jähriges Sturzopfer eingeliefert und ist völlig desorientiert. Sie stellen ihn im Flur ab, wo er erstmal liegenbleibt. Er weiß nicht mal, wo er ist.

Mittlerweile machen wir allesamt schon Späße. Galgenhumor inmitten der Realsatire. Ich werde beispielsweise nach geschlagenen 3 Stunden vom Doc gefragt, um welchen Finger es sich nochmal gehandelt hat, den man grade eben geröntgt hat (ich Trottel dacht schon, dass es weitergehen würde).

Dann macht sich Herr Sch. auf die Wanderung. Läuft einfach los. Tipp-Tapp-Tipp-Tapp. Und lässt sich von niemandem aufhalten. Der Pfleger sammelt ihn eine Viertelstunde später wieder auf dem Parkplatz ein.

Endlich. Nach über 3 Stunden werde ich weiterbehandelt. Der Doc, von dem ich immer noch nicht richtig weiß wie er heißt (ich vermute einfach, dass es einer der Namen auf dem Formular ist) schneit herein und schaut gebannt auf die Röntgenbilder. Dann, nach über 2 Minuten kommt er zu mir und sagt:

...und ich hätte wetten können, dass er durch ist...
Dann legt er seine Hand auf meine Schulter und sagt in seeeehhr mitleidigem Ton
Alles Gute
und dann ist er weg. Raus. Verschwunden. Ich hab keine Ahnung, ob die Behandlung damit abgeschlossen ist und ich nun gehen darf oder doch besser von alleine gehen sollte, ehe sie mir angesichts des mitleidigen Getues des Docs noch den Finger amputieren.

Dann schneit der nächste Arzt rein. Der erste, der sich mal richtig mit mir auseinander setzt. Auch er studiert ewig die Bilder. Dann endlich hör´ ich "Plattenabriss" (was das auch immer sein mag).

Endlich eine Diagnose. Also ab in den Gipsraum.
Vorm Gipsraum sitzt Herr Sch. immer noch in seinem Rollstuhl. Und geht wieder stiften. Läuft wieder davon.

Und ich sitz und sitz und sitz. Kurz vor Vollendung der 4-Stunden-Marke kommt zufällig ein Pfleger rein, der von mir (!) wissen will, was er denn bei mir machen müsse. Nach kurzer Erklärung schreit er folgenden Satz ins Nebenzimmer:

Ich hab da einen Herrn entdeckt, bei dem müsste man eine Gipsschiene machen. Ich mach das schnell.


Er sagte wirklich "entdeckt". Aber das Ende naht endlich. Da stürmt einer der Pfleger rein auf der Suche nach Herrn Sch. (der bereits eine Dreiviertelstunde früher seine Wanderung angetreten hat). Folgender Dialog:

1: "Herr Sch. ist weg, hast du ihn gesehen?"

2: "Nein, ich seh auch nicht ein, dass ich sein Kindermädchen bin."

1: "Stimmt. Soll er doch loslaufen."

2: "Den bringen sie ohnehin wieder zurück. Irgendwer wird den schon wieder einsammeln."

1: "Gut möglich. Bis in seinen Heimatort sinds über 20 km. Das is lang. So weit kommt der sicher nich."

2: "Wie kalt ists denn grade nachts so?"

1: "Geht noch. 8-10 Grad. Da erfriert keiner."


Was bin ich froh, als ich dieses Kabinett wieder verlassen hatte.
Fazit: Zum Arzt gehen ist gefährlich.

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da weiss man echt nich, ob man lachen oder weinen soll.

wo der herr sch. nun wohl is?

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mannomann! was'n chaotischer haufen... der dialog der pfleger über den stiften gegangenen herrn sch. ist abartig.

... fehlt nur noch, dass sie dir den rechten kleinen finger eingegipsen.

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Übel... - und sowas ist leider nichtmal ne Ausnahme! Bei uns gibt's auch so ein Krankenhaus, in dem einem so was stän dig passiert - von den vielen Fehldiagnosen ganz zu schweigen...

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Ich bin moralisch glaub ich total verloren, ich hab jedenfalls gut lachen muessen bei deiner Story. Frag mich was die Pfleger noch so alles "entdecken" wenn sie mal durch die Flure spazieren...Gerippe, Stereotypien entwickelte wartende Patienten, Aerzte die nicht mehr wissen welcher ihr Behandlungsraum ist usw...
Gut, dass mit dem Herrn Sch. ist natuerlich heftig. Solche Stories bekommen die Gesundheitsminister wahrscheinlich doch nie zu hoeren oder tuen sie als uebertrieben ab...

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Also ich muss zugeben, ich musste auch ziemlich lachen.

Was Herr Sch angeht, der kann sehr weit kommen. Vor allem wenn er so wie unsere Nachbarin, die nach einer Nacht im Krankenhaus auch keine Ahnung hatte wo sie war und wie sie dahingekommen ist, einfach ein Taxi nach hause nimmt.

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ach du (herr) sch....
ich habe mir im sommer vor sechs jahren mal den mittelhandknochen gebrochen. saß da also mit meiner blauer und imer stärker anschwellender pfote wimmernd in der notaufnahme. 15.00 uhr. ich warte und warte. wage nach einer stunde zu fragen, ob man mich vergessen habe, nachdem die drei anderen wartenden (die alle nach mir kamen) schon dran waren. die frau an der anmeldung wühlt hektisch in einigen zettelchen, meint dann einfach "nein." audienz beendet. nach knapp drei stunden kam die letzte der drei nach mir gekommenen patentinnen aus den behandlungsräumen. mir gegenüber sitzt nun ein junger mann mit armschiene. der erzählt mir, er sei heute mittag hier reingekommen, habe vorhin sein schiene gekriegt und warte nun auf den letzten check durch den oberarzt. okaaayyy. vielleicht habe ich chancen, bis einbruch der dunkelheit nach hause zu kommen.
dann bin ich an der reihe. der arzt verdreht mir die hand, bis ich in die knie gehe und sternchen sehe. dann krieg ich ein babberl auf einen schein: röntgen. nach 45 minuten holt mich die röntgenassistentin. mit dem rollstuhl! na das ist mal service. wir unterhalten uns auch recht gut. nach dem röntgen lässt sie mich dann im rollstuhl in einem kalten zimmer stehen. als es schon dämmert, kommt eine ärztin herein: "was machen sie denn da?!" zehn minuten später habe ich eine zentnerschwere gipsschiene bis zum ellenbogen am arm. "so, dann werden wir sie mal einweisen." mir fällt das kinn fast auf die schuhe. "aber..." "das ist ein schwerer bruch, ihnen rutscht der knochen aus dem finger in die hand. das wird geschraubt." "aber??" "das dauert bis zu zehn tage. solange müssen sie hierbleiben." dann darf ich aber doch noch einmal eine nacht nachhause. duschen und die zahnbürste einpacken. schöner sommer war das. :(

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Frei nach dem Motto:

Alles, was noch selber kriechen kann,
Kommt heut' sowieso nicht dran.

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Und ich dachte, in der Provinz achten die Menschen noch mehr aufeinander. ;-) Dass sie in den Großstadtkrankenhäusern ab und zu mal verlorengehen oder erst nach 3 Tagen aus dem feststeckenden Lift gerettet werden, kannte man ja schon...

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Das ist in der Großstadt nicht anders. Mich hatten sie mit einer lebensgefährlichen Verletzung in einer Schwerpunktklinik vier Stunden laut schreiend im Flur gelassen, weil irgendwelche aufgeschlagenen Knie vor mir dran waren.

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DAZU
kann ich auch was, aus einer ganz anderen Provinz, berichten.

Einige Jahre vor Ihrem Erlebnis fuhr ich so mir nichts, dir nichts, mit der Vespa ums Eck. Der rotlackierte Fußgängerüberweg (warum der Seitenarm einer wenig befahren untergeordneten Seiten-Nebenstraße einer Honschaft lackiert war, hing wohl mit der Metropolsucht des Ortsvorstehers zusammen) führte wegen frühmorgendlichen Tau zu einem wegschmieren des Vorderrades. In der Kurve ist das nicht lustig!
Ich schlug mit dem Kopf auf die Bordsteinkante.

Aufgerappelt, Helm ab, kotzen.
Sofort ins Provinzhilfslazarett gefahren.
Ambulanz-Aufnahme:
Ich: "s.o."
Aufnahme: "Arbeitsunfall?"
Ich: "Nein."

Das wars. Keine Aufnahme. Das Lazarett war nicht zuständig.
Insofern blieb mir Ihr Erlebnis zum Glück erspart!

Da bin ich dann (mit dem Roller) ca. 30 km zum Hausarzt gefahren (wer weiß, vielleicht brauchte ich ja eine Überweisung?),was ich als recht anstrengend empfand,teils wegen der zuckenden Augen, Kopfschmerzen und der teilweisen halluzinösen Wahrnehmung von Ampelphasen. Der Hausarzt hatte zwar ein Röntgengerät, durfte aber a) keine Köpfe röntgen und b) keine Unfälle behandeln...

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Herrlich!
Das witzige bei mir war: Arbeitsunfall. Da durfte man dann noch mit eingegipstem linkem Arm -als Linkshänder-zig gelbe Formulare ausfüllen (was vorher auch deutlich einfacher gewesen wäre)

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Da blieb mir wirklich einiges erspart!
Der Hausarzt ("Mensch, prieditis, wat guckste denn so scheel? Augenarzt is nebenan!") hat das dann für mich doch noch geregelt. Wie, das weiß ich nicht mehr. *flöt

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