Donnerstag, 7. Juni 2007
....die da oben machen ohnehin was sie wollen

Tell all the people who believe what they read in the press
The enemy is not some nation far across the sea
The enemy is with us every single breathing day
No rights were ever given to us by the grace of God
No rights were ever given by some United Nations clause
No rights were ever given by some nice guy at the top
Our rights they were bought by all the blood
And all the tears of all our
Grandmothers, grandfathers before

Fight all the powers who would abuse our Common Laws
Fight all the powers who think they only owe themselves

New Model Army; My Country


Den Satz in der Überschrift hat vermutlich jeder schon mal gehört.

Klingt nach Politikverdrossenheit. Immer mal wieder von allerlei Zeitgenossen beklagt.
Aber: Gibt es "die" Politikverdrossenheit wirklich? Noch immer ist die Wahlbeteiligung -auch im internationalen Vergleich- recht imposant und wenn man sich mal mit Menschen unterhält, haben die allermeisten sehr wohl einen politischen Standpunkt und politische Ansichten. In diesen Tagen pilgern Tausende gen Ostsee (und das nicht, weil es dort so schön ist).

Was ist es dann?

Ich würde es eher Politikerverdrossenheit nennen wollen, vielleicht auch Parteienverdrossenheit. Woran das liegen mag?

Vielleicht zuerst einmal an der Kommunikation der Gewählten mit ihrem Stimmenvieh: Verklausuliertes Politsprech, dessen Sprachcodes kaum mehr verstanden werden, gepaart mit einer größer gewordenen Distanz.

So hat Norbert Blüm sinngemäß einmal gesagt, er sei auch deshalb gewählt, weil es andere ja auch nicht besser könnten als er. Das mag zwar ehrlich sein, ist aber mindestens ebenso entlarvend tölpelhaft:
Es ist in etwa so, als ginge man mit Bauchweh zum Arzt, kommt dann mit einem amputierten Bein raus und der Arzt sagt einem dann im Anschluß, dass man selbst es ja auch nicht besser gekonnt hätte.

Einher geht das mit den vielen grauen Herren und Damen, die sich als Hinterbänkler den Hintern breit, das eigene Girokonto voll sitzen und deren einziges Bemühen darin besteht, wieder einen sicheren Listenplatz zu kriegen. Inklusive eines Rentenanspruchs, der einem stinknormalen Arbeitnehmer nicht mehr vermittelbar ist*.
Gewiss, da mag es zwar durchaus ein paar aufrichtig bemühte Parlamentarier geben, insgesamt sind es aber schlicht ein paar zu viele, die da -mitsamt Entourage- tätig sein dürfen.

Es sind immer weniger "echte Typen", die politisch unterwegs sind und viel öfter die Fönfrisuren und humorlosen Krawattenbedenkenträger, die zuviel Jura studiert haben. Einer wie Herbert Wehner ist in der heutigen SPD undenkbar, in der CDU auch kein Geißler mehr (der zwar manchmal riesengroßen Scheißdreck absonderte, aber doch immerhin ein wenig Rückgrat hatte) und als Joschka Fischer seine Turnschuhe ablegte, legte er gleichzeitig auch ein mitunter deftiges Vokabular ab.

Der Fraktionszwang tut sein übriges. Sollte es dennoch einer wagen, darauf zu beharren, wozu er einzig verpflichtet wäre -seinem grundgesetzlich verbürgten eigenen Gewissen nämlich- handelt er sich mindestens innerparteilichen Ärger ein und riskiert die nächste Listennominierung.

Mag sein, dass die direkte Mitbestimmung durch Wahlen sinkt, mag auch sein, dass die indirekte Mitbestimmung durch z.B. Demonstrationen (Ostern, Pfingsten, 1. Mai) gesunken ist. Das alles ist aber vielleicht auch weniger Anzeichen einer gestiegenen Verdrossenheit als vielmehr auch die veränderter Partizipation. Man braucht heute kein Banner mehr durch die Straße zu tragen um die Mitmenschen darauf aufmerksam zu machen, dass man XY völlig bescheuert findet. Ein Modem inklusive PC tuts auch.

Auch haben sich die politischen Aktivitäten vieler von traditionellen Parteiaktivitäten entfernt, hin zu NGOs (Greenpeace, ai, attac etc.), Bürgerinitiativen und anderen bürgerschaftlichen Engagements.
Allerdings mag dies auch daran liegen, dass es keine wirkliche Alternative zur Alternative gibt:

Der Haken, den die heutige Parteiendemokratie auch hat, liegt aber auch darin, dass ehemals originäre Parteipositionen nicht mehr als solche erkannt werden (können?). Viel zu wenig Profile sind ausgeprägt. Den Job der unangenehmen Reformen inklusive des größten Sozialabbaus der Geschichte? Eigentlich ein Sündenfall vor dem Volke. Übernommen von Rot-Grün und nicht etwa von Schwarz-Gelb. Reformen in der Familienpolitik wie zum Beispiel der Ausbau des Krippenangebots? Macht Schwarz und nicht etwa Rot. Und eine Partei, die froh sein darf, dass sich die überwältigende Mehrheit nicht mehr an pseudoliberale Kinderkrankheiten erinnert, fängt auf einmal an, allseits restriktive Gesetze für und gegen allerlei (von der Glühbirne bis zur Alkoholprohibition) zu fordern und sich mit gesegneter Mehrheit an Kriegen in aller Welt zu beteiligen.
Wer angesichts solches Hin und Her und gebrochener Wahlversprechen noch freudig zu einer Wahl geht, verdient meine ehrliche Hochachtung.


Dennoch: Gibt es Grund für Panikmache? Meiner Ansicht nach: Nein. Auch wenn die Wahlbeteiligungen sinken mögen: Eine Demokratie wird nicht an einer geringen Wahlbeteiligung scheitern (zumindest sieht die Schweiz von hier aus betrachtet ganz stabil aus**). Wenn eine Demokratie scheitert, dann an einem Mangel an Demokraten. Das ist die Lehre, die aus der Geschichte der Weimarer Republik gezogen werden darf.
Und schon sind wir bei den Partizipationsmöglichkeiten angelangt: Politik ist eben nicht das Kreuz auf dem Wahlzettel alle paar Jahre. Politik beginnt im Kleinen und bei jedem einzelnen im Kommunalbereich. Das betrifft oft viel unmittelbarer als die "große Politik". Zudem sind die Erfolgsaussichten auf kommunaler Ebene oftmals nicht zu schlecht.

Dasselbe gilt für die Demokratie. Die Demokratie als solche wurde nicht vom lieben Gott darniedergegeben, sie wurde nicht von einem gütigen Kaiser oder König geschenkt und auch nicht von einem Komittee verliehen und sie muss täglich gegen die Schäubles und Schilys der Republik neu verteidigt werden***.


Zudem darf die große Jammerei und Meckerei durchaus auch als Bestandteil dieser (überaus gut funktionierenden) Demokratie verstanden werden. Das ist im übrigen auch in anderen Ländern durchaus Usus. Man unterhalte sich einmal mit einem Italiener. Und spätestens dann, wenn über die Jammerei und Meckerei gejammert und gemeckert wird, dürfte klar sein, dass dieses Land eins der glückseligsten des Planten ist.
Im übrigen leistet man sich einen Spendenkleptokraten als honorigen Ex-Kanzler und potentiellen Nobelpreiskandidaten. Nicht weil man muss (und auch nicht, weil man will), sondern weil man kann.


Trotzdem braucht man nicht tatenlos dazusitzen. Man darf es eigentlich auch gar nicht. Der wichtigste Punkt dazu ist Bildung. Bildung, Bildung, Bildung.
Die Vorstellung, dass Menschen zur Wahl schreiten, die nicht einmal die Hauptstadt des Nachbarlandes kennen und für die der Lebensmittelpunkt darin besteht, wie Richterin Salesch wohl morgen entscheiden wird, ist grausam. Nicht, dass es nun über Nacht Millionen Abiturienten und Politikstudenten geben muss, aber wer keine Ahnung von der Vergangenheit hat, wird sich auch schwer tun, die Gegenwart zu verstehen. Von so etwas wie einer visionären Zukunftsvorstellung ganz zu schweigen.

Eine große Chance liegt beispielsweise im Internet:
Mit dem Internet haben sich die Möglichkeiten radikal verändert. Auf einmal sind die Möglichkeiten der Partizipation immens gestiegen, die Verbreitungsmöglichkeiten multiplizieren sich. Damit eröffnet sich ein völlig neues Spektrum. Eine Art "virtuelle Demokratie". Auch dieser Artikel kann als politisches Statement verstanden werden und erreicht -zumindest potentiell- Millionen. Jeder hat so die Möglichkeit, seine Ansicht quer (und relativ einfach) über den Globus zu verteilen. Eine Möglichkeit, an die wohl unsere Großeltern nicht zu denken wagten.
Das Schöne daran ist, dass Blogs, Foren und Kommentare zu Artikeln im Netz bleiben und nicht wie ein Leserbrief verschwinden. Ein nie dagewesenes gigantisches Archiv. Die Möglichkeit zur Mitbestimmung für jedermann...
Was dies heißt, wird vor allem in repressiven Regimen wie China oder dem Iran deutlich: Dort haben beispielsweise Blogs einen großen Einfluß in der politischen Wissensvermittlung und dort werden Blogs von den herrschenden Autokraten als Bedrohung ihrer Macht empfunden. Die Tatsache, dass dies in der Bundesrepublik nicht der Fall ist, liegt vielleicht auch daran, dass wir -gottseidank- von iranischen und chinesischen Verhältnissen weit entfernt sind (was nun nicht gleichbedeutend damit ist, selig die Füße hochzulegen).


Schon sind wir wieder bei der Überschrift angekommen: Die da oben machen ohnehin, was sie wollen. Stimmt, aber nur solange man sie lässt.




* Um in etwa die gleichen Werte wie die eines Parlamentariers des Bundestags zu erreichen (inkl. Übergangsgelder etc.) hätte ich mit meinem Einkommen so etwa im Jahr 1500 in die gesetzliche Rentenversicherung eintreten müssen.

** Die Wahlbeteiligung bei Schweizer Nationalratswahlen liegt bei unter 50 % (im Vergleich dazu erreicht die Bundesrepublik Deutschland bei Bundestagswahlen immerhin knapp 80 %)


***vgl. Eingangszitat


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Ich nehme an, das ist Dein Beitrag zu Blog- Karneval? Bravo,sag ich da mal.

Ich habe - rein zufällig - heut Mittag an einem Text zum ähnlichen Thema geschrieben - leider ist er noch weit vom Status 'spruchreif' entfernt. Aber vielleicht krieg ich ihn ja bis zum Ende der Spargelsaison noch fertig.

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Richtig, Herr ericpp (und herzlichen Dank fürs Kompliment)....

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Kompliment
Super Beitrag, witzig geschrieben, mein Favorit beim politischen Blogkarneval

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Herzlichen Dank. Das Kompliment kann ich aber nach Lektüre des malini´schen Beitrags zurückgeben...

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...machen doch was sie wollen!
Ja- aber wie KANN man "die Politiker" denn nun daran hindern, zu machen was sie wollen? Bildung ist ja ein guter Ansatz (für die Wähler?) - aber für die Politiker scheint das (trotz teilweiser, guter Bildung) nicht gerade zu zutreffen. Das beste Beispiel kommt von dir selbst: Joschka Fischer. Kaum hat einer wirklich die Macht etwas zu verändern, versinkt er schon im Regierungsallerlei...

Und Geißler, sowie Blüm kriegen scheinbar erst hinterher wieder "das Maul auf" um mal was Vernünftiges zu sagen. Vielleicht sind Politiker im Amt einfach zu SATT, um nützlich zu sein?

softanarcho

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Abwählen kann man machen, dagegen anschreiben kann man machen und auf die Straße gehen kann man auch machen.

Ich verstehe aber, worauf du hinauswillst. Pest contra Cholera. Stimmt. Aber perfekt wirds nicht werden. Und wir haben immerhin den Kohl überlebt...

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Aber nur knapp...
... den Kohl überlebt. :-D

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Ich hing auch schon in den Seilen....

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